AD(H)S als medizinisches Modell: auf der Suche nach Halt

Seit Menschengedenken ist die Medizin mit der Erwartung konfrontiert, Erklärungsmodelle und daraus hergeleitete Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, wenn Menschen körpertich oder psychisch in Not geraten. Seitdem diese Erklärungsmodelle auf eine naturwissenschaftliche Basis gestellt wurden, haben die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten einen bisher unvorstellbaren Aufschwung genommen. Daraus entstand die Erwartung, dass durch die Kenntnis eines ursächlichen Organbefundes gezielte und wirksame Hilfe möglich werde. Dort, wo eine solche Zuordnung zunächst nicht möglich erscheint, weckt das regelmäßige gemeinsame Auftreten wrschiedener "Symptome" die Hoffnung, doch noch einen Organfaktor als "Ursache" zu finden. Man fasst sie dann zum "Syndrom" zusammen. Verhaltensauffälligkeiten bei schweren Hirnschäden führten zu der Annahme, dass letztlich alle derartigen Auffälligkeilen eine organische Ursache haben müssten. Als diese Annahme enttäuscht und der Organfaktor nicht gefunden wurde, begnügte man sich mit dem Begriff "Dysfunktion". In den neunziger Jahren schien sich die lang gehegte Hoffnung, die vage Begriftlichkeit der "Dysfunktion" durch ein sicheres Fundament verlässlicher Organbefunde ersetzen zu können, endlich doch noch zu erfüllen. Neue bildgebende Verfahren, die erstmals Stoffwechselprozesse im Gehirn sichtbar machen konnten, schienen AD(H)Sspezifische Auffälligkeilen des Hirnstoffwechsels - insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Überträgersubstanz Dopamin - zu belegen. Trotz methodischer Unzulänglichkeiten wurden diese Befunde bald als gesicherte Fakten behandelt und fuhrten zu der Vorstellung, dass es sich beim AD(H)S ursächlich um eine Hirnstoffwechselstörung handle. Die weitere Entwicklung zeigte jedoch, dass all diese Befunde in ihrer Bedeutung nicht so klar waren, wie es zunächst schien (Lupke, 2001). Weiterhin wird teilweise hoch aggressiv mit der "Hirnstoffwechselstörung" als "gesicherter Tatsache" argumentiert. Dies ist ein Hinweis auf eine weitere Dimension in der Aktualität des AD(H)S-Themas: Ein Bedurfnis nach Halt, nach Sicherheit, nach festem Boden- so stark, dass Zweifel ignoriert, Enttäuschungen wr1eugnet werden.

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Autor:H. v. Lüpke, 2003
Quelle:Beitrag zum IFB-Forum "ADHS als schulische Herausforderung"
Jahr:2003
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